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Trotz Lockerungen weniger Corona-Neuinfektionen

Malte Kreutzfeldt, taz.de

Das Virus verbreitet sich wohl anders als gedacht: Gefährlich sind Innenräume und „Superspreader“

Von Malte Kreutzfeldt

 

Als sich Bund und Länder am 6. Mai darauf einigten, Geschäfte und Schulen wieder zu öffnen und die Kontaktbeschränkungen zu lockern, hatten viele ExpertInnen Sorge vor zunehmenden Infektionszahlen. Drei Wochen später zeigt sich nun, dass das nicht der Fall ist: Die Zahl der täglichen Neuinfektionen ist im Mittel der letzten sieben Tage auf 480 am Tag gesunken. Vor drei Wochen war dieser Wert mit über 1.000 Fällen noch mehr als doppelt so hoch, Anfang April lag er bei rund 5.600 Neuinfektionen pro Tag.

Ebenfalls rückläufig ist die Anzahl der IntensivpatientInnen und Toten. Wegen der größeren Zeitverzögerung war eine Auswirkung der Lockerungen auf schwere Krankheitsverläufe allerdings ohnehin noch nicht zu erwarten. Die Anzahl der aktuell auf einer Intensivstation behandelten CoronapatientInnen sank auf 821 – von 1.937 vor drei Wochen und knapp 3.000 Mitte April. Die Zahl der gemeldeten Corona-Todesfälle ging im Sieben-Tage-Mittel auf nur noch 37 am Tag zurück; vor drei Wochen waren es noch 126, der Höchstwert um den 20. April lag sogar bei über 230 Toten am Tag.

Dass die Lockerungen sich nicht in den Infektionszahlen niederschlagen, liegt nach Ansicht verschiedener Experten an der Verbreitung des Virus: Die funktioniert offenbar anders als anfangs vermutet. Ein Großteil der Ansteckungen geht demnach auf wenige Menschen zurück, sogenanne Superspreader, die einerseits besonders viele Viren ausscheiden, andererseits mit vielen Menschen in engen Kontakt kommen.

„Internationale Studien legen nahe, dass das Infektionsgeschehen in Clustern auftritt – zum Beispiel, dass etwa 10 Prozent der Infizierten für 80 Prozent der Infektionen verantwortlich sind“, sagte der Bonner Virologe Hendrik Streeck der taz. „Das Verbot von Großveranstaltungen dürfte darum bei der Eindämmung eine entscheidende Rolle gespielt haben.“ Und diese gelten ja weiterhin. Daneben spiele auch das sommerliche Wetter eine Rolle bei der positiven Entwicklung, weil es die Verbreitung von Tröpfchen und Aerosolen verringere, so Streeck.

Auch der Epidemiologe und SPD-Bundestagsabgeordnete Karl Lauterbach betont im Gespräch mit der taz die Bedeutung von Superspreadern und die des Wetters. Zudem hätten neue Studien gezeigt, dass das Virus sich vor allem in geschlossenen Räumen verbreite, weil sich Aerosole, also Wolken aus feinsten Tröpfchen, dort länger halten. „Drinnen ist die Ansteckungsgefahr 18-mal so hoch wie draußen“, erklärt Lauterbach. Im Freien sei eine Lockerung der Kontaktbeschränkungen darum weniger problematisch als in Innenräumen.

Die Kontaktbeschränkungen hätten in Deutschland „sehr gründlich gewirkt“, resümiert Lauterbach. Die Infektionszahl sei dadurch so weit gesunken, dass ein neuer Ausbruch weniger wahrscheinlich werde. Dennoch kamen die Lockerungen aus Sicht des SPD-Politikers verfrüht. „Hätten wir drei Wochen länger durchgehalten, hätten die Neuinfektionen fast ganz ausgelöscht werden können“, so Lauterbach.

Dass die Zahlen dauerhaft sinken, folgt allerdings nicht automatisch aus der bisherigen positiven Entwicklung. „Ich glaube schon, dass es im Herbst wieder mehr Fälle geben wird“, sagt Virologe Streeck. „Aber weil sich diese vermutlich auf einzelne Hotspots konzentrieren, sollten sie leichter einzudämmen sein.“ Ähnlich äußerte sich der Berliner Virologe Christian Drosten im NDR: Wenn die Verbreitung des Virus vor allem über wenige Superspreading-Ereignisse erfolge, sei es leichter, alle Betroffenen zu isolieren. „Dann könnte man über solche Maßnahmen tatsächlich das Gesamtschicksal der Epidemie in der Bevölkerung unter Kontrolle bringen“, so Drosten.